Bildung im Vorübergehen:

Gudrun-Goeseke-Straße

Zusatzschild-Text:
Orientalistin, Leiterin der Bibliothek der Morgenländischen Gesellschaft in Halle, Retterin des Archivs der Jüdischen Gemeinde Halle
Spender:
gespendet von Zeit-Geschichte(n) e.V.
Status:
realisiert am 17.10.2021

Gudrun Goeseke (1925 – 2008)

Gudrun Goeseke wurde am 21. April 1925 als Tochter des Lehrers und zeitweiligen Oberbürgermeisters Albert Mücke in Meißen geboren. Als Kind erlebte sie die Verhaftung ihres kommunistischen Vaters. Kurz vor der Hausdurchsuchung brachte sie auf seine Bitte sogar noch belastende Unterlagen in Sicherheit. 1953 schloss sie das Studium der Orientalistik und Semitistik mit einer Diplomarbeit über „Die grammatische Kongruenz in der Sprache des Korans“ ab. Sie arbeitete für die Kommission „Spätantike Religionsgeschichte“ der Akademie der Wissenschaften und war Lehrbeauftragte für neuarabische Schriftsprache. Von 1961 bis 1987 war sie unter dem Dach der Universitätsbibliothek Leiterin der Bibliothek der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Mit ihren zwei Kindern wohnte sie im jüdischen Gemeindehaus in der Großen Märkerstraße. Möglich wurde das durch eine Wohnungszuweisung zwecks Aufnahme ihrer pflegebedürftigen Mutter, die den Status „Opfer des Faschismus“ hatte.
1978 entdeckte Gudrun Goeseke bei Aufräumarbeiten im Keller des Gemeindehauses Akten der Jüdischen Gemeinde, die als verschollen galten. Die damalige Gemeindevorsitzende Karin Mylius zeigte sich gleichgültig: „Wen interessiert das schon, die Leute sind doch alle tot.“ Gudrun Goeseke war empört, brachte die Akten in ihre Wohnung und stieß bei der Sichtung auf Ungereimtheiten in den biografischen Selbstaussagen der Gemeindevorsitzenden. Nach weiteren Recherchen konnte sie belegen, dass Karin Mylius nicht – wie sie behauptete – das adoptierte Kind jüdischer Eltern, sondern die leibliche Tochter eines NS-Polizeibeamten war. Als Gemeindevorsitzende verschaffte sie sich persönliche finanzielle Vorteile, während das Gemeindeleben völlig zum Erliegen kam. Wie aus der Hinterlassenschaft der untergegangenen DDR sichtbar wird, waren Behörden und MfS die biografischen Lügen schon lange bekannt, aber die bloße Simulierung jüdischen Lebens stieß auf Wohlwollen, weil sie sich mit der antiisraelischen Haltung der DDR verband. Frau Goesekes Aufklärungsbemühungen waren nicht nur erfolglos, sie zogen auch eine Beobachtung durch das MfS nach sich. Der Ehemann der Vorsitzenden, der Indologe Klaus Mylius, schlug im vertraulichen Gespräch mit der Abt. Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes sogar vor, die Frau Goeseke mal eine Weile „ins Kitchen“ zu stecken, damit ihr Gerede aufhöre. Im Dezember 1986 starb Karin Mylius. Unter der neuen Vorsitzenden Käthe Ring wurde Gudrun Goeseke in die Jüdische Gemeinde Halle aufgenommen. 1990 wurde ihr Übertritt in einer Berliner Mikwe in aller Form möglich.

In der 1980er Jahren leitete Gudrun Goeseke Arbeitseinsätze von Jugendlichen der Aktion Sühnezeichen auf dem verwahrlosten Jüdischen Friedhof, gestaltete die hebräische Schrift für das Denkmal am Jerusalemer Platz in Halle und pflegte die Kontakte zu den Angehörigen ermordeter und vertriebener Juden aus Halle. Ihre Kontakt- und Datensammlung bildete die Grundlage für ein Gedenkbuch, das dann in einem Schülerprojekt unter der Leitung des Gymnasiallehrers Volkhard Winkelmann entstand.

Bei den ersten Montagsdemonstrationen informierte sie in dem dort verteilten „Blattwerk“, einer Samisdat-Zeitschrift, über die Situation der Jüdischen Gemeinde und dass Klaus Mylius noch immer die Gemeindewohnung besetzt hielt und damit den Zuzug der neuen Gemeindevorsitzenden verhinderte. Sie unterstützte die Gründung des NEUEN FORUM und war für dessen Stadtratsfraktion berufene Bürgerin.

Ihren Nachlass übereignete Gudrun Goeseke dem Verein Zeit-Geschichte(n), deren Mitbegründerin und Ehrenvorsitzende sie ist. Er befindet sich als Depositum im Stadtarchiv Halle und dient dort u.a. den Recherchen zum Gedenkprojekt STOLPERSTEINE.

2007 wurde Gudrun Goeseke mit dem „Emil-Ludwig-Fackenheim-Preis für Toleranz und Verständigung“ der Jüdischen Gemeinde zu Halle geehrt. Auf ihrer Beerdigung 2008 wurde ein Kondolenzschreiben von Bundespräsident Horst Köhler verlesen, der bedauerte, dass die bevorstehende Verleihung des Bundesverdienstkreuzes nicht mehr vollzogen werden konnte.

Heidi Bohley

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